Analyse des Liedtextes von Fehlfarben aus dem Jahr 2002
(Album: „Knietief im Dispo“)
Die Plakate am Zaun sagen die Zeit bleibt stehn
Die Mahnungen zu Haus das Gegenteil
Musik will niemand mehr hören, nur noch sehn
15 Minuten sind schnell vorbei
Kein Flugzeug kann immer fliegen
Niemand wird auf ewig siegen
Kein Auto kann immer fahren
Die Menschheit starb vor 100 Jahren
Am Morgen gibt es schon lang keinen Stau
Aus der Nacht gleich in die Agentur
Mittags sind überall Manager blau
Geld ist gut für die Figur [...]
Aus Abfall und Dreck wird Kohle gemacht
Hugo brät schon lang mehr keinen Hahn
An Bahnhöfen wird nur noch ans Essen gedacht
Die Dealer fahrn jetzt Straßenbahn
Kein Flugzeug kann immer fliegen
Niemand wird auf ewig siegen
Kein Auto kann immer fahren
Die Menschheit starb vor 100 Jahren
Fehlfarben ist eine Band, die seit Anfang der 1980er Jahre sozialkritisch-alternativen Punkrock hervorbringt. In diesem Lied holen sie zu einer umfassenden Gesellschaftskritik aus, in deren Zentrum der Fortschrittsglaube und die allgemeine Leistungsrhetorik stehen.
Das Lied beginnt mit Medienkritik. Es wird kritisiert, daß eine Traumwelt verkauft werde, die der nüchtern betrachtet negativen Realität gegenüberstehe (idealisierende Plakatwerbung versus Mahnungen für unbezahlte Rechnungen).
Flugzeug, Auto und Ewigkeit werden als Repräsentanten für die Fortschritts- und Wachstumsideologie unserer neoliberalen Gesellschaft präsentiert, die in Anbetracht begrenzter Ressourcen keine Zukunft habe („Die Menschheit starb vor 100 Jahren“). Dies kann auch auf intellektuell-moralischer Ebene verstanden werden. Die neoliberale Gesellschaft wird auf düstere Art und Weise als materialistisch, dekadent und krank dargestellt („sind überall Manager blau“, „Geld ist gut für die Figur“).
„Hugo brät schon lang mehr keinen Hahn“ klingt wie eine Kritik an der Gentrifizierung, also an der sozial-strukturellen Aufwertung von Stadtvierteln durch steigende Mieten, in deren Zuge ärmere Bevölkerungsschichten in unattraktivere Stadtgebiete verdrängt werden. Mit ihnen weichen dann entsprechend auch klassische Imbisse für ein älteres, männliches Arbeitermilieu. Die Kritik bezieht sich dementsprechend eher auf die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten als auf den konkreten Wegfall des einfachen Imbisses mit fettigen Pommes Frites und Hühnerfleisch aus Massentierhaltung.
Es folgt ein Seitenhieb auf den weitverbreiteten Drang, alles zu Geld machen zu wollen („Aus Abfall und Dreck wird Kohle gemacht“). Wie Recht Fehlfarben mit dieser Aussage haben, zeigt etwa die Aussage des Bundesumweltministeriums aus dem Jahr 2011:
BMU - Abfallwirtschaft in Deutschland 20111
Eben diese Wachstums- und Fortschrittslogik wird im Text von Fehlfarben scharf kritisiert, da sie dauerhaft nicht funktionieren könne („Kein Auto kann... Kein Flugzeug kann... Niemand wird auf ewig siegen“). Dies dürfte eine Referenz zu den „Grenzen des Wachstums“ sein, wie sie vom sogenannten Club of Rome 1972 formuliert wurden. Das Papier mit demselben Namen hatte damals die ersten größeren öffentlichen Diskussionen über die Folgen von Wirtschaftswachstum ausgelöst. Es verbreitete sich damit die Erkenntnis, daß ein lineares oder gar exponentielles Wachstum bei begrenzten natürlichen Ressourcen nicht dauerhaft möglich sein kann. Der Umstand, daß Fehlfarben auch noch im Jahr 2002 derlei Wachstumsrhetorik kritisieren müssen, zeigt, daß diese Erkenntnis noch längst nicht bei allen, insbesondere nicht bei den Vertretern neoliberaler Ideologie angekommen ist.2
1 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit | Abfallwirtschaft in Deutschland 2011 – Fakten, Daten, Grafiken | Quelle: www.umweltschutz-bw.de (Zugriff: 04/2013).
2 So heißt beispielsweise auch das Stadtentwicklungskonzept Hamburgs seit just demselben Jahr (2002) „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“. Ein Stadtentwicklungskonzept Moskaus aus dem Jahr 1960 hätte vermutlich einen ähnlichen Titel tragen können.