Eltern-Lehrer-Verhältnis in der Leistungsgesellschaft
Auszüge eines Artikels der Zeitschrift "Ökotest"1

 

ÖKOTEST:


"Schlechtes Zeugnis

Lehrer bewerten die Leistungen ihrer Schüler anhand von Zensuren. Doch wer kontrolliert die Lehrer? Eltern, die glauben, dass ihr Kind ungerecht benotet wurde, gehen dagegen zunehmend mit Hilfe eines Anwalts vor.

Mia hat die Physikarbeit versemmelt obwohl Papa tagelang mit ihr geübt hat? Kann nicht sein! Leo wurde dazu verdonnert, eine Woche lang in die Parallelklasse zu gehen, weil er ständig den Unterricht stört? So kennen wir unseren Sohn gar nicht! Und Ben droht sowohl in Mathe als auch in Deutsch eine 3 auf dem Halbjahreszeugnis – das war's dann wohl mit dem Wechsel aufs Gymnasium. Theoretisch zumindest... Denn die Eltern des Viertklässlers haben keineswegs vor, sich damit abzufinden. Ob Zensuren, Disziplinarmaßnahmen oder Empfehlungen für die weitere Schullaufbahn – Eltern hinterfragen schulische Entscheidungen zunehmend auch rechtlich mit Hilfe eines Anwalts."


 

Neoliberalyse: Das Magazin Ökotest berichtet über das gestörte Verhältnis vieler Eltern zu Lehrern in den Schulen der Bundesrepublik. Schon die Einleitung zeigt auf, daß es mit einem solidarischen Miteinander in unserer Gesellschaft zur Zeit nicht weit her ist. Es herrscht vielfach Mißtrauen auf Seiten von Eltern, die sicherstellen wollen, daß ihre Kinder innerhalb der Gesellschaftshierarchie ganz oben mitspielen können, also entsprechende formale Abschlüsse erhalten.

 

 

Ökotest:Statistiken darüber werden Sie nicht finden“, sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), aber aus seiner jahrzehntelangen Praxis als Verbandsfunktionär als Schulleiter weiß er, „dass solche Fälle häufiger geworden sind“. Genaue Zahlen kennt auch Hans-Peter Etter nicht, „aber das hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen“. Der Leiter der Rechtsabteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) kann das direkt am Personalbedarf seiner Abteilung ablesen: „Hat sich vor 15 Jahren bei uns lediglich eine Fachkraft um strittige Angelegenheiten zwischen Schule und Eltern gekümmert, sind es mittlerweile sechs.“

Sicher, Bayern ist groß (allein der BLLV vertritt 57.000 Lehrer) und eines der wenigen Bundesländer, in denen die Bildungsempfehlung der Grundschule bindend ist und somit die Entscheidung über die weitere Schullaufbahn des Sprösslings nicht vom Willen der Eltern abhängt. […]

 

Neoliberalyse: Die Aussagen dieses Abschnitts zeigen, daß ein Teil des Problems das Bildungssystem selbst ist, das reaktionär auf Selektion fixiert und damit darauf ausgerichtet ist, die Ständegesellschaft zu erhalten. Die gesellschaftliche Schichtbildung soll dementsprechend entlang der Schulabschlüsse verlaufen.

Nicht zufällig scheint die Aufstockung des Personals für aufmüpfige Eltern parallel und proportional zu aktionistischen Bildungsdiskussionen rund um Bildung im „globalen Wettbewerb“ Leistungsvergleichen, Rankings und Elitendiskussionen zu verlaufen.

 

 

Ökotest: Doch die Konflikte entzünden sich längst nicht nur an so weit reichenden Entscheidungen wie einer Bildungsempfehlung – auch einzelne Noten für Tests oder Ordnungsmaßnahmen wie Verweise werden erbittert angezweifelt und sorgen für schlechte Stimmung zwischen Schule und Elternhaus. „Der gemeinsame Erziehungsauftrag von Eltern und Lehrern zum Wohle des Kindes – das gibt es heute nicht mehr. Das Grundvertrauen, dass die Schule das schon richtig handhaben wird, ist Vergangenheit", bedauert Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologen-Verbandes (DphV).

Die Gründe für diese Entwicklung sind – zumindest in dieser Hinsicht herrscht Einigkeit zwischen den Lagern – gesellschaftspolitisch bedingt. „Einer der Faktoren, die das fördern, ist sicherlich der Trend zur Ein-Kind-Familie“ sagt DL-Präsident Josef Kraus. „Auf dieses eine Kind projiziert sich der gesamte elterliche Ehrgeiz.“ Hinzu kommt nach Kraus Ansicht „die unsägliche Bildungsdebatte in Deutschland“, die das Gefühl vermittelt, dass heute nur jemand mit Abitur überhaupt eine Chance auf dem globalisierten Arbeitsmarkt hat“. Eltern haben dann panische Angst und denken: „Wenn mein Kind das nicht schafft, ist alles aus.“ Dieses Denken erzeugt einen ungeheuren Leistungsdruck. „Die Folge ist“, sagt Heinz-Peter Meidinger, „dass es nicht mehr um Bildung, Wissensvermittlung oder das Wohlergehen des Kindes geht, sondern nur noch darum, dass es am Ende ein Zertifikat erhält.“ Schule werde dabei zunehmend als Dienstleistungsunternehmen betrachtet, das liefern muss. „Wenn sie nicht liefert wird sie bekämpft, wenn es sein muss, mit allen Mitteln.“ [...]

 

Neoliberalyse: In diesem Abschnitt wird deutlich, was der Kern des Problems ist: Das Denken in Kategorien eines angeblich bestehenden „globalen Arbeitsmarkts“ und einer angeblichen internationalen Konkurrenz, der die Schüler ausgesetzt seien. Die Eltern glauben offenbar an das Mantra vom globalen Wettbewerb um Humankapital und möchten ihre Kinder entsprechend dieses Glaubens mit den besten Voraussetzungen für den "Kampf" innerhalb dieses Wettbewerbssystems vorbereiten.

Die Sicht auf Schule als Dienstleistungsunternehmen zeigt, wie falsch die um Exzellenz bemühten Eltern unser Gesellschaftssystem verstehen. Schulen sind natürlich keine Unternehmen, die Dienstleistungen anbieten, sondern sind Institutionen, die einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen und selber integraler Bestandteil der Zivilgesellschaft sind. Sie haben die gesellschaftlich entscheidende Aufgabe, alle Menschen gleichermaßen auf das Leben und Arbeiten in unserer Gesellschaft vorzubereiten – auf daß sie sich zurechtfinden, Glück und Erfüllung finden, die Gesellschaft entsprechend ihrem Wissen verändern können; aufgeklärt und umfassend gebildet sind.

Schule als Dienstleister greift viel kürzer und fokussiert lediglich eindimensional auf den Qualifikationsaspekt.

 

Ökotest: Etwa, wenn sie [die Eltern] mit einem Anwalt im Schlepptau in die Elternsprechstunde stürmen. Gestandene Lehrkräfte bleiben da in der Regel unbeeindruckt, weil sie wissen, dass solche Aktionen lediglich Theaterdonner sind. Denn ein Anwalt hat bei einem solchen Gespräch eigentlich nichts zu suchen. Anders Referendare oder noch sehr junge Lehrer: „Die lassen sich von solchen Auftritten eher mal ins Boxhorn jagen“, weiß Heinz-Peter Meidinger zu berichten. [...]

Die Eltern rechtzeitig zu kontaktieren oder einzubeziehen, wenn Schwierigkeiten mit Ihrem Kind auftreten. „Aber, um im Bild von Schule als Dienstleistungsunternehmen zu bleiben: Unsere Kundenorientierung hat sich sehr verbessert, betont Meidinger. Er weist in diesem Zusammenhang auf den im vergangenen Jahr von der Vodafone Stiftung Deutschland herausgegebenen Leitfaden Qualitätsmerkmale schulischer Elternarbeit hin, der als Kompass für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus dienen soll (siehe Kasten Seite 85).


 

Neoliberalyse: Interessanterweise verurteilt der zitierte Herr Meindinger die Sicht auf die Schule als Dienstleistungsunternehmen auf der einen Seite, betont auf der anderen Seite aber, die „Kundenorientierung“ seiner Organisation habe sich „sehr verbessert“. Damit übernimmt er entgegen seiner Überzeugung die Sichtweise seiner politischen Gegner. Kundenorientierung ist nämlich nichts, was in einer emanzipierten und solidarischen Gesellschaft gefragt wäre. Denn Kundenorientierung bedeutet nämlich gerade NICHT, daß Lehrer und Eltern gemeinsam zu sinnvollen gesellschaftlichen Lösungen kommen, sondern bedeutet nur, daß Kommunikationsstrategien optimiert werden und man sich letztendlich eben doch als Dienstleister sieht. Absurderweise verweist Meidinger auch auf einen Leitfaden der „Vodafone Stiftung Deutschland“. Er verweist also auf ein Papier, das von einem Unternehmen mit privatwirtschaftlichen Interessen für ein öffentliches Bildungssystem entwickelt wurde.

 

Ein Blick auf das entsprechende Texterzeugnis jener Vodafone-Stiftung2 in Bezug auf die Eltern-Schul-Problematik offenbart keine offensichtlichen Hinweise auf eine neoliberale Agenda. Die Optimierung des Verhältnisses zwischen Eltern und Schulen wird hier aber letztendlich primär als volkswirtschaftliche Optimierung gesehen. Dem wäre hinzuzufügen, daß auch und vor allen Dingen der gesellschaftliche Friede als Ziel definiert werden müßte.

grafik-vodafonestiftung-kl


Grundsätzlich ist es seltsam, daß ein Telekommunikationsunternehmen zu sozialen Fragen Papiere erarbeiten läßt. Zumal im Bildungssystem weder Privatunternehmen noch Unternehmensstiftungen mitmischen sollten, da betriebswirtschaftliche Ziele nur sehr selten mit gesellschaftlichen Zielen gleichzusetzen sind. Insofern ist eine problematische Interessenvermischung zu befürchten. In diesem Fall mag dies augenscheinlich unproblematisch sein3. Positioniert sich die Stiftung jedoch zu anderen bildungspolitischen Fragen wie der Bachelor-Master-Reform mag dies schon ganz anders aussehen...
Außerdem auffällig ist, daß ausgerechnet Vodafone, ein Unternehmen, daß das deutsche Mobilfunkunternehmen Mannesmann um die Jahrtausendwende zerschlug und sich diese für die deutsche Gesellschaft schädliche feindliche Übernahme von den hier ansässigen Steuerzahlern auch noch vergolden ließ, indem das Unternehmen die Übernahme von der Steuer absetzte. Vodafone oder seine Stiftung also als gesellschaftlich konstruktiven Akteur anzusehen, erscheint damit etwas abwegig. Die Gründung einer solchen Stiftung mit einem Bruchteil der Mittel, die durch die feindliche Übernahme von Mannesmann erbeutet wurden, soll in dem Sinne sicherlich das Unternehmensimage fördern. Eigentlich wird dies aber gar nicht nötig sein, denn die meisten Menschen dieser schnellebigen Gesellschaft dürften den Skandal ohnehin bereits längst vergessen haben.

 


1 Ausgabe Nr. 4/2014

2 Der Bericht der Vodafone-Stiftung findet sich unter diesem Link.

3 An einigen Stellen des Berichtes ist zwar klar zu erkennen, daß die neoliberale Ästhetik einer Servicementalität zum Tragen kommt (Beispiel 1 auf Seite 6 des Berichts: „Der Empfangsbereich und das Gelände der Schule sind einladend gestaltet“; „In der Schule herrscht ein freundlicher Umgangston“). Insgesamt geht der Bericht aus einer neoliberalismuskritischen Perspektive aber in Ordnung.

 


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