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Sachsen: Kronzeuge und Flüchtling, eine lebensgefährliche Kombination?

Ist der Iraker wirklich „zufällig“ erfroren? Eine Chronologie.

 

21. Mai 2016
Ein Iraker, der als Flüchtling nach Deutschland gekommen und 2016 aufgrund einer psychischen Erkrankung im psychiatrischen Fachkrankenhaus Arnsdorf in Behandlung war, hatte Streit in einem Supermarkt. Er war an dem Tag bereits zwei Mal im Supermarkt gewesen, hatte sich aber mit dem Personal aufgrund von sprachlichen Barrieren offenbar nicht einigen können. Er hat eine Diskussion mit den Angestellten des Discounters – vermutlich, weil er Probleme mit seiner dort gekauften Prepaid-Telefonkarte hatte oder diese bereits leer telefoniert war.

Der Iraker hielt ganz entspannt zwei Weinflaschen in der Hand – möglicherweise, um sie einzutauschen gegen die von ihm als ungültig angesehenen Telefonkarte. Auf dem Video war unschwer die entspannte Körperhaltung aller Beteiligten zu erkennen.
Ganz anders als die „Bedrohungssituation“ wie sie im Nachhinein von einigen Beteiligten konstruiert worden war.
Massive Gewalt wurde von einer selbsternannten Bürgerwehr gegen den Iraker ausgeübt, wie man auf dem Video unschwer erkennen kann: Vier Männer mit einschlägigem äußerlichen Erscheinungsbild (Alter 29 bis 56 Jahre) stürmten in das Geschäft und zerrten den Flüchtling unter rohen Fausthieben aus dem Supermarkt. Einer brüllte dabei: „Was willst du hier?! Was willst du hier?!“
Im Anschluss an diesen Gewaltausbruch gegen den Iraker fesselten ihn die Männer laut Staatsanwaltschaft mit Kabelbindern an einen Baum und der Gefesselte wurde später von der Polizei aufgefunden. Die „Bürgerwehr“ hatte die Polizei also offenbar nach dem Fesseln ihres Opfers nicht verständigt.
Seltsamerweise rief keiner der Anwesenden die Polizei, wie es in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und funktionierenden Institutionen die erste Wahl sein sollte, sondern der kleine Lynchmob aus Neonazis stürzte sich auf den Mann. Eine Anwesende kommentiert noch in das Video hinein, es sei ja schade, dass man eine Bürgerwehr brauche, „oder“?


Sommer 2016
In der Region wurde das Eingreifen der selbsternannten Bürgerwehr von rechter Seite und von offizieller Seite aus ganz offen abgefeiert. Die rechtsradikale Presse betitelte den Vorfall mit „'Flüchtling' randaliert im Supermarkt“. Und verlinkte auch das Video, auf dem klar zu sehen war, dass der Flüchtling zwar eine Szene machte, aber keineswegs randalierte oder gewalttätig war. In den einschlägigen Internetforen – etwa auf Liveleak.com, wo eines der Videos gepostet wurde – kommentierten im Anschluss die Neonazis mit ihren vielfältigen Internet-Pseudonymen:

„Daily reminder that this happened in Eastern Germany where PEGIDA was founded. Western Germany is still pussified like Califate Swedistan.“
Posted Jun-1-2016 By Str33tProfessor (ein Nutzer aus Deutschland, Avatar: Reichskriegsflagge)

Oder ein Neonazi-Nutzer aus Kanada:
„This is worse than the problem Hitler was elected to solve.“
Posted Jun-1-2016 By sober2013

Die Ermittlungen gegen den Iraker wegen der angeblichen Bedrohung von Angestellten des Supermarktes wurden eingestellt – aber auch die Ermittlungen gegen den Görlitzer Polizeichef, der im Nachklang des Vorfalls Verständnis für das gewalttätige Vorgehen gegen den Flüchtling geäußert hatte. Gegen die Zeugen, die behauptet hatten, der Iraker habe die Angestellten des Supermarkts bedroht, wurde wegen der offensichtlichen Falschaussage nicht ermittelt.
Die vier Täter wurden Ende 2016 wegen Freiheitsberaubung aufgrund des Herauszerrens des Irakers aus dem Supermarkt und des Fesselns an einen Baum angeklagt. Der Prozessbeginn wurde auf den 24. April 2017 angesetzt.

 

Januar 2017
Das letzte Mal wurde der irakische Flüchtling gesehen, als er Medikamente bei Flüchtlingshelfern abgeholt hatte. Er lebte zu dieser zeit in einem Asylbewerberheim im Tharandter Wald. Unklar ist, weshalb das Verschwinden des Mannes offenbar nicht bemerkt worden war.

 

20. April 2017
Die stark verweste Leiche des Irakers wurde in einem Waldstück bei Dorfhain gefunden. Laut Polizei gab es keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Gefunden wurde die Leiche von einem Jagdpächter.
Laut Obduktionsbericht war der Mann an Unterkühlung gestorben, war also erfroren. Die Staatsanwaltschaft ließ verlauten, keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung gefunden zu haben, weshalb es keine Hinweise auf eine Straftat gäbe. Vielleicht ein vorschnelles Urteil, berücksichtigt man die Vorgeschichte des Mannes. Immerhin untersucht die Dresdner Mordkommission nun, wie der Mann in den Wald kam.

Bild Dorfhain

Tharandter Wald bei Dorfhain (im Süd-Osten) / Openstreetmap.org / CC BY-SA

25. April 2017
Das Verfahren gegen die „Bürgerwehr“ wegen Freiheitsberaubung wurde wegen „Geringfügigkeit“ eingestellt. Von der massiven Gewalt gegen den Iraker, wie auf dem Video zu erkennen war, war aber keine Rede. Vom Amtsgericht Kamenz kam die Aussage, die Angeklagten seien ohnehin nur zu sehr geringen Strafen verurteilt worden. Der Flüchtlingsrat in Sachsen und die Grünen Sachsen kritisierten die Einstellung des Verfahrens.

 

Und jetzt?

Die polizeilichen Ermittlungen laufen noch und es bleibt zu hoffen, dass es ein tatsächliches Interesse an einer Aufklärung des Falls von Seiten der sächsischen Behörden gibt. Mit der Erklärung, der Mann habe sich wohl einfach verlaufen und sei damit mehr oder weniger zufällig erfroren, macht man es sich aber wohl zu einfach.
Man sollte sich mit Spekulationen zurückhalten, aber es ist auch davon auszugehen, dass mögliche Mörder nicht ganz dumm sind. Vorstellbar wäre etwa, einen Menschen mit vorgehaltener Waffe in den Wald zu zwingen und dort die Unterkühlung einfach abzuwarten. Da der Tod des Irakers bereits im Januar 2017 stattgefunden hat, wären Fußspuren von anderen Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit heute nicht mehr nachweisbar.
Es bleibt abzuwarten, was die Ermittlungen der Polizei ergeben, denn Sachsen wird inzwischen zu einer immer unheimlicheren Region. 1994 war das Wort „Dunkeldeutschland“ noch zum Unwort des Jahres gekürt worden. Für den „Freistaat Sachsen“ vielleicht zu Unrecht?

 


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