Kommentar auf politischem Plakat läßt tief blicken
Humanistische Bildung =
Arbeitslosigkeit?

Die Analyse einer flapsigen Meinungsäußerung

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arbeitslosigkeit-rebo

 

Für eine Wahl zum Studierendenparlament an der Uni Hamburg hatte die politische Hochschulgruppe¹ Regenbogen / Alternative Linke ein kleines Wahlplakat erstellt.
Auf diesem Plakat ist im Hintergrund eine idealisierte, comichafte Landschaft mit einem grünen Hügel, weißen Wolken und einem blauen Himmel abgebildet.
Davor schwebt auf der rechten Seite eine stilisierte dunkelgraue Person und auf der linken Seite schweben stilisiert drei rosafarbene Personen.

Auf der Linken Seite sind auf den gelb gezeichneten Pfeilen die Begriffe 'Freie Kurswahl', 'Persönlichkeit', 'Demokratie', 'Gebührenfreiheit' und 'Selbstbestimmung' zu lesen. Die Pfeile zeigen von den Personen aus in den Himmel. Auf der rechten Seite zeigen dunkelgraue Pfeile mit der Beschriftung 'BA/MA-Modulzwang', 'Stine-Kontrolle', 'Elitenwahn', 'Bachelor', 'Hochschulrat' und 'Studiengebühren' auf die allein stehende Person.

Die Aussage des Plakates ist wohl recht eindeutig: die politische Liste Regenbogen/Alternative Linke tritt für ein nach ihrer Definition besseres Studium und Studiensystem ein. Dies wird durch die in rosa gezeichneten, stilisierten drei Personen verdeutlicht, von denen aus gelbe Pfeile nach außen zeigen. Auf der anderen Seite spricht sich die Gruppe gegen das aktuelle oder politisch gewollte System aus, welches durch die dunkelgrau gezeichneten Pfeile zum Ausdruck kommt, die auf die einzelne Person zeigen.

Dieses DIN-A5 Plakat war auf einem Männerklo der Uni Hamburg an eine Tür geklebt worden, hatte den diagonalen Abrißspuren nach zu urteilen, bereits einem Versuch der Zerstörung widerstanden und war mit einem Stift durch das Wort "Arbeitslosigkeit" ergänzt worden. Anhand des Winkels und der Position dieser handschriftlichen Ergänzung kann davon ausgegangen werden, daß es zur linken Seite mit den Forderungen der politischen Liste gehören soll.

Es stellt sich die Frage, weshalb dieses Wort hinzugefügt wurde und was die Aussage davon ist. Diese muß im Kontext der benachbarten Worte auf den gelben Pfeilen analysiert werden.
Alle diese benachbarten Worte sind allgemein positiv besetzt und sind als politische Forderungen zu verstehen. Das Wort "Arbeitslosigkeit" hingegen ist in unserer Gesellschaft negativ konnotiert. Daher steht es im Gegensatz zu den positiv konnotierten Worten der gelben Pfeile und kann somit als Ironie verstanden werden.
Die Person, die die Ergänzung vorgenommen hat, macht sich also offenbar über das Wahlplakat, die vermittelte Aussage und die politischen Forderungen lustig.

Was hat Arbeitslosigkeit nun mit freier Kurswahl, Persönlichkeit (hier ist wohl Persönlichkeitsbildung gemeint), Demokratie (hier ist wohl demokratische Beteiligung gemeint), Gebührenfreiheit (vermutlich der Wegfall von Studiengebühren) und Selbstbestimmung (vermutlich die freie Kurswahl, keine Anwesenheitspflichten u.s.w.) zu tun? Der anonyme Kommentator scheint einen direkten Zusammenhang  zwischen diesen politischen Zielen und Arbeitslosigkeit zu ziehen. Er will in diesem Sinne also sagen, daß wenn diese Ziele - im Gegensatz zu den auf der rechten Seite dargestellten Zielen - verwirklicht würden, Studierende nach dem Studium mit höherer Wahrscheinlichkeit oder größerer Häufigkeit arbeitslos würden. Damit unterstellt der Kommentator auch implizit, daß die politischen Ziele und Umstände auf den dunklen Pfeilen der rechten Seite, nicht oder in geringerem Maße zu Arbeitslosigkeit führen würden.

In einen Satz gepackt könnte man den Kommentar in diesem Sinne folgendermaßen verstehen: Wenn sich das Bildungs/Universitätssystem in eine Richtung entwickelt, in der die Studierenden Freiheiten haben, sie Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten übertragen bekommen und auf die Erhebung von Bildungsgebühren verzichtet wird, dann führt dies zu mehr Arbeitslosigkeit. Wenn im Bildungssystem jedoch das Bachelor-Master System etabliert ist, die Studierenden in ihrer Freiheit durch Module und strikte (elektronische) Kurs-Zuweisungsprogramme eingeschränkt werden und wenn sie darüber hinaus für ihr Studium Geld bezahlen, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß die Studierenden nach ihrem Studium arbeitslos sein werden.

Um herauszufinden, weshalb der Kommentator dieser Meinung ist, müssen diese einzelnen Aspekte genauer beleuchtet werden:
Die freie Kurswahl ermöglicht es Studierenden, sich frei zu entfalten, zu spezialisieren und im individuellen Tempo das Studium zu vollenden. Zum Teil wird die freie Kurswahl aber auch kritisiert, da die Studierenden zu wenig Strukturen vorgegeben bekämen und dies viele von ihnen überfordere. Auf diese Kritik an den alten Studiengängen (Diplom/Magister) bezieht sich der Kommentator offenbar. Da sich die Studierenden in ihrer Freiheit "verhedderten", würden sie mit mangelnden Kompetenzen auf den Arbeitsmarkt kommen, oder gar ihr Studium abbrechen und dann keinen Job bekommen.  Im Sinne der Effizienz, solle das Studiensystem folglich Strukturen ähnlich wie der schulischen vorgeben. Wer dann auch frei forschen wolle, müsse sich nach dem Bachelor dann eben neu bewerben und versuchen, ein Masterstudium zu ergattern. Eine weitere allgemein geäußerte Argumentation betrifft das "zu alt". Studierende seien mit Ende zwanzig bereits zu alt für den Arbeitsmarkt, sie sollten doch lieber bereits mit Mitte zwanzig ihren Bildungsweg abgeschlossen haben, dies sei in Zeiten des demographischen Wandels und des globalen Wettbewerbs unerläßlich. Dagegen könnte wiederum argumentiert werden, daß Lebenserfahrungen und freie Entfaltung auch produktivere und kreativere "Arbeitskräfte" hervorbringt, aber eben weniger angepaßte und schwierigere Arbeitnehmer, denen mehr Arbeitslohn zusteht und die auch das Tun des Arbeitgebers kritisch hinterfragen, anstatt sich blind unterzuordnen und anzupassen. Schließlich muß als Argument der anderen Seite genannt werden, daß Bildung ein Menschenrecht sei und nicht primär im Sinne arbeitsmarkttechnischer Verwertbarkeit gesehen werden dürfe.

Daß der Kommentator demokratische Beteiligung ("Demokratie") als Faktor für Arbeitslosigkeit sieht, verwundert. Selbst aus einer rein funktionalistischen Argumentation heraus müßte eine Beteiligung möglichst aller involvierten Akteure an Entscheidungsprozessen in einer großen Organisation wie einer Universität zu einer optimalen Steuerung beitragen, da das Wissen um die Notwendigkeiten und Bedürfnisse spezifischer Statusgruppen auch am besten von ihnen selbst formuliert werden müßte.
Einer anderen Meinung waren offenbar BildungspolitikerInnen in Deutschland, als sie die sogenannten Hochschulräte einführten und damit einen wesentlichen Teil richtungsweisender Entscheidungen aus der Verantwortung der Universitäten selbst an  externe (nicht gewählte und zum Teil geheim tagende) Gremien übertrugen. Externe Experten, so glaubte man, verfügten über die kritische Distanz und eine Anbindung an die Gesellschaft außerhalb der Universität. Die Uni selber wurde offenbar als Elfenbeinturm gesehen, der sich von der Gesellschaft entfernt habe. Daher wurden Hochschulräte, mit wesentlicher personeller Besetzung durch Entscheidungsträger aus der Wirtschaft und ohne studentische Beteiligung eingerichtet. Der Kommentator übernimmt die Auffassung der Mehrheit der BildungspolitikerInnen, eine solche Steuerung an Stelle einer demokratischen sei erstrebenswert.

Abschließend kann konstatiert werden, daß der Kommentar auf dem dargestellten Kleinplakat auf bestimmte gesellschaftliche Meinungen und Vorurteile über ein humanistisches und demokratisches Bildungssystem basiert (Seitenhiebe auf das "alte"  Studiensystem, positive Hervorhebung der Arbeitsmarktorientierung). Der Kommentar steht jedoch auf einem schwachen argumentativen Fundament und stellt implizit eine Vielzahl nicht zu belegender Behauptungen auf.
Aus dem Blickwinkel einer aufgeklärten Gesellschaft, in der das Wohlergehen und die Würde des Menschen zentrale Entwicklungsziele darstellen, muß dieser Kommentar als falsch und destruktiv zurückgewiesen werden. Bildung sollte nicht primär aus einer Perspektive der ökonomischen Verwertung und der Kompatibilität zu Anwendung und Arbeitsmarkt gedacht werden. Was taugt eine Gesellschaft, in der dem Menschen das Recht auf echte Bildung, freies Denken und Kritikfähigkeit zu Gunsten von Wirtschaftswachstum und nationaler Leistungsvergleiche verwehrt werden?


 1 Es handelt sich um eine politische Gruppierung, die wie eine Partei für das Studierendenparlament zur Wahl antritt. Aus dem Studierendenparlament geht dann die Studierendenvertretung, der sogenannte AStA hervor


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